Unter dem Titel „Europa im Umbruch. Europa in Literatur und Film der Gegenwart“ fand am 13. und 14. Dezember 2018 eine von Michaela Nicole Raß und Kay Wolfinger organisierte internationale Tagung statt, in deren breit angelegtem Rahmen sich Teilnehmende und Publikum mit spezifisch das Themenfeld „Europa“ betreffenden Fragestellungen auseinandersetzten. Gefördert wurde die Tagung von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, deren Räumlichkeiten am Münchner Schloss Nymphenburg das passende Ambiente für eine Tagung schufen, die sich einem solch umfassenden wie tiefgreifenden Thema widmete.
In der Begrüßung und Einführung leiteten Michaela Nicole Raß und Kay Wolfinger unter Bezug auf u. a. den Song „Besuchen Sie Europa“ von Geier Sturzflug aus den 1980er-Jahren sowie den Eurovision Song Contest (ehemals Grand Prix Eurovision de la Chanson) auf das Tagungsprogramm hin und ebneten damit den Weg für das Eintreten in den Europa-Diskurs über den Verlauf der folgenden zwei Tage. Raß und Wolfinger wiesen dabei insbesondere auf den speziellen, nicht immer unproblematischen Stellenwert Europas in der zeitgenössischen Forschung hin und identifizierten die titelgebenden „Umbrüche“, die historisch wie aktuell an und in Europa beobachtbar werden, als bedeutungsstiftende Momente für Wissenschaft und Gesellschaft.
Sektion 1: Europa als (politisches) Konstrukt im Spiegel der Kultur(und)Theorie
Paul Michael Lützeler bereitete der Tagung mit seinem Vortrag „Kritik der Kritik. Zu den neueren Europa-Thesen von Robert Menasse“ einen Auftakt, der sich insbesondere mit den europäischen Institutionen sowie der Darstellung derselben im Werk von Robert Menasse auseinandersetzte. Anhand der Diskussion von Menasses literarischer Verarbeitung des Themenkomplexes Europa stellte er die Frage, ob anstelle der Forderung nach Zerschlagung der Nationalstaaten im Sinne der Idee von den „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht vielmehr ein Modell eines „Europa der Regionen“ den europäischen Herausforderungen angemessener sein könnte. Lützeler wies zudem auf die Verantwortung hin, deren Übernahme Schriftsteller*innen trotz des Privilegs der Fantasie insbesondere dann abzuverlangen sei, wenn sie historischen Stoff verarbeiteten und sich zudem – wie Menasse – solcherlei Themen nicht nur in fiktionalen Werken, sondern auch in der Essayistik annähmen.
Ausgehend von der These, in den Kulturwissenschaften sei eine Umakzentuierung im Umgang mit Europa zu beobachten, nahm Nicolas Detering in seinem Vortrag „Theorizing Europe? Neuere Europadebatten in den Kulturwissenschaften“ insbesondere die Problematik des Begriffs „kulturelle Identität“ in den Blick. Ein Hauptaugenmerk dieses Vortrags lag dabei auf u. a. postkolonialen und postmarxistischen Kritiken an elitistischen und universalistischen Auffassungen von Europa und europäischer Gemeinschaft. Der sogenannte „europäische Raum“ sei zudem als relationaler, gleichsam „fluider“ Raum zu begreifen, innerhalb dessen beispielsweise auch transkontinentale Verflechtungen mit afrikanischen Kolonien hinsichtlich der EWG-Gründung im Europa-Diskurs zu berücksichtigen seien. Deterings Vortrag schloss mit der Forderung nach einer Rekanonisierung nicht-europäischer Denker*innen wie z. B. Hamid Dabashi. Diese sei nötig gerade in Anbetracht von Kritik und Einwänden, denen sich die europäische postcolonial theory in Bezug auf ihre eigenen Ausgangsbedingungen und Einschränkungen, möglicherweise einen eigenen inhärenten Eurozentrismus, ausgesetzt sehe.
Zum Abschluss des ersten Tagungspanels vervollständigte Ulrich Brückner die bis dahin zusammengetragenen historischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven um seinen politikwissenschaftlichen Beitrag „Das Haus Europa – Von der Schwierigkeit, eine Baustelle zu lieben, die eine bleibt“. Hierin kritisierte er zum einen das Phantasma, ein einzelner genialer Einfall könnte bzw. müsste zum Wohle Europas eine revolutionäre, wenngleich geradlinige Veränderung herbeiführen, und betonte stattdessen die Prozesshaftigkeit des stetig im Wandel begriffenen politischen Konstrukts Europa. Darüber hinaus tue anstelle reduktionistischer Forderungen vielmehr der respektvolle, pluralistische Streit sowie die (wenn auch mühsame) stetige Neuaushandlung europäischer Werte not, um dem Umgang mit der „Dauerbaustelle“ Europa angemessen zu begegnen.
Sektion 2: Europa: Eine Fiktion? Aktuelle Konstruktionen von Europa als Idee, Begriff, Bild, kulturelle Konzeption
Das zweite Panel des Tages eröffnete Christoph Augustynowicz mit seinem Vortrag „Zwischen Aneignung und Rivalität: Einige Bemerkungen zum Konzept Ostmitteleuropa in aktuellen Diskussionen“, in welchem er über die historische und politische Bedeutung des ostmitteleuropäischen Raumes sprach. Augustynowicz charakterisierte Ostmitteleuropa als „Europa zwischen den Meeren“ (Ostsee, Schwarzes Meer) bzw. als Zwischenraum zwischen Westen und Osten, den Raumbegriff darüber hinaus als einen „oszillierenden“, und er machte darauf aufmerksam, dass der Begriff „Mitteleuropa“ insbesondere deutsche Machtbestrebungen konnotiere. Deutlich wurde dabei, wie sich Konzeptionen von Ostmitteleuropa sowie Vorstellungen von Zentrum und Peripherie angesichts ökonomischer und realpolitischer Entwicklungen gewandelt haben. Darüber hinaus zeigte er anhand der Achse Wien/Berlin – verlaufend zwischen den Shoah-Gedenkstätten in den beiden Hauptstädten – die divergierenden Bedeutungsfunktionen beider Städte in aktuellen Debatten auf.
Europas Krisen widmete sich Edgar Grandes politikwissenschaftlicher Vortrag „Die Zukunft Europas – Weshalb Europa neu gegründet werden muss und nicht kann“. Grande diagnostizierte u. a. eine tiefgreifende Kooperations- und Solidaritätskrise, die mit Legitimations- und Vertrauenskrisen der europäischen Institutionen einhergehe. Während solche Krisen historisch als langfristig durchaus gewinnbringend für Europa anzusehen seien, betonte Grande die Notwendigkeit von Reformen anstelle von Appellen an Identitätsgefühle. Problematisch sei insbesondere die Blockade fundamentaler Reformen durch zunehmende Politisierung und Polemisierung politischer Prozesse. Einen Ausweg erkannte Grande in einem scheinbaren Paradox, nämlich wiederum der größeren Politisierung und Mobilisierung der europäischen Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer Förderung politischer Mehrheiten für Europa.
Sektion 3: Europa und Europäer: Eine identitätsbildende Einheit?
Mit dem Begriff des Imperiums und der Frage danach, ob und, wenn ja, inwiefern Europa und das Konzept des Imperiums zusammengedacht werden könnten, erweiterte Oliver Jahraus den ersten Tagungstag zu Beginn des dritten Panels um eine weitere Perspektive, die sich ebenfalls an Räumlichkeitsvorstellungen, ebenso sehr aber auch an kulturellen Trajektorien abarbeitete. Unter Betrachtung von u. a. Kleists Der zerbrochne Krug, Harris’ Fatherland, Krachts Faserland sowie Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, Houellebecqs Soumission und der Star-Wars-Filme erörterte Jahraus eine Vielzahl von literarischen und filmischen Verarbeitungen des Imperiums und arbeitete dabei Zusammenhänge aktueller politischer Krisen Europas sowie krisenhafter Kippmomente von Imperien heraus.
Der Frage nach gemeinsamen identitäts- und sinnstiftenden Ereignissen sowie ihrer materiellen Manifestationen spürte Ulrike Zitzlsperger in ihrem Beitrag „Ach, Europa: Reflexionen über Verbindendes und Trennendes“ nach. Ihrer Beobachtung, dass es im Gegensatz zu den europäischen Nationalstaaten kaum bis keine Souvenirs zu Europa zu erwerben gäbe, folgte der Hinweis auf die Veröffentlichung der Anthologie Goodbye Europe nach dem Brexit-Referendum, wobei sie die Anthologie als Publikationsform charakterisierte, die viele mitunter divergierende Perspektiven zusammenbringen könne. Zitzlsperger betonte zudem, die Konzeption Europas als „Festung“ suggeriere eine in sich geschlossene Kultur bei gleichzeitiger Undurchdringlichkeit; diesem Sinnbild stellte sie die Vorstellung von Europa als „Hotel“ gegenüber und machte die These stark, dass eine einheitliche europäische Öffentlichkeit nicht existiere.
Zum Abschluss des ersten Tages warf Rüdiger Görner die Frage auf: „Was ist der ‚gute Europäer‘ – heute?“ Im Laufe seines Vortrags konterkarierte Görner eine erneut zunehmende Unsicherheit und Passivität in Europa-Diskursen mit einer kritischen Auseinandersetzung mit Nietzsche; in Anlehnung an diesen legte Görner eine kulturelle Selbstproblematisierung im Sinne der Fähigkeit, als „guter Europäer“ sich selbst von außen betrachten zu können, nahe. Er zog dabei eine Linie vom Ursprungsnarrativ des Mythos von Zeus und Europa, der in radikaler Selbstentfremdung gipfelte, über zu Konzeptualisierungen von Heimatlosigkeit bei Nietzsche, in welcher der zum Wanderer gewordene Europäer der Vorstellung einer homogenen europäischen Wertegemeinschaft in seiner Mobilität und Offenheit radikal widerspräche, bis hin zur aktuellen Forderung, ebenjene Offenheit auch Europas nicht nur auszuhalten, sondern engagiert mitzugestalten.
Sektion 4: Europabilder im Film: Utopien und Dystopien
Den zweiten Tag und somit das vierte Panel der Tagung eröffnete Henry Keazor mit seinem Vortrag „Europa als Utopie und Dystopie in den Filmen von Lars von Trier und Jean-Luc Godard“. Im ersten Teil des Beitrags beschrieb er die kunsthistorischen Zusammenhänge, die das positive Europabild in Jean-Luc Godards Film Passion konstituieren. Hierzu führte er die Lyotard’sche Analogie des europäischen Stils als „concordia discors“ an. Der europäische Stil sei demnach nicht als Einheit, sondern als harmonierendes Ensemble von Strömungen zu verstehen, „in Vielfalt geeint“. Den zweiten Teil widmete er den negativen Europaimaginationen in Lars von Triers Europa-Trilogie. Mit Anspielungen an den Zweiten Weltkrieg oder der Verbindung des Europa-Mythos mit dem nationalsozialistischen Konzept des Wolfs thematisiere die Filmreihe die Konsequenzen und Traumata eines durch Gewalt „vereinten“ Europas.
Gleich im Anschluss stellte Stephan Kammer eine vertiefte Analyse der Europa-Trilogie vor. Er ging im Detail auf die einzelnen Filme von Lars von Trier ein und stellte zwei interpretatorische Momente vor, die sich im Zusammenhang der Untersuchung herauskristallisierten. Zunächst wies er auf die tragende Rolle des Karten-Motivs hin, das in Element of Crime als bloße Darstellung von Zugnetzen und in Europe gar als essentieller Teil der Handlung verarbeitet werde. Anschließend machte er auf die Störung des hermeneutischen Systems in von Triers Filmreihe aufmerksam und zog dafür Frauke Berndts Konzept der „Zone“ heran, das sich durch Ambiguitäten, die Auflösung von bekannten Denkmustern sowie die Juxtaposition von gegensätzlichen Konzepten charakterisiert, wie es beispielsweise auch in Thomas Pynchons Roman Gravity’s Rainbow der Fall ist.
Sektion 5: Europabilder in der Gegenwartsliteratur und auf der Bühne
Zu Beginn des fünften und letzten Panels stellte Mario Grizelj die Frage: Wo bleibt der große europäische Roman? In seinem Vortrag „Der Abgrund des Abgrunds“ ging er der Genrefrage des Buches Zone von Mathias Énard nach und versuchte zu bestimmen, ob es sich bei dem Text um einen Roman oder ein Epos handelt. Die von Énard gewählte Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms würde zunächst suggerieren, dass es sich hierbei um einen Roman handle – so Grizelj. Bei genauerer Inspektion lassen sich jedoch einige Anspielungen auf die klassischen Epen der Antike ausfindig machen, wie z. B. die Gliederung des Textes in 24 Abschnitte, eine klare Allusion auf Homers Illias. Der Hegel’schen Vorstellung des Epos als „Bibel eines Volkes“ folgend diskutierte Grizelj anschließend, ob es sich bei diesem Werk um das langersehnte „Epos der Europäer“ handle. Er stellte schlussendlich fest, dass der Text Eigenschaften beider Gattungen enthält und je nach Genreauslegung unterschiedlich interpretiert werden kann.
Mit einer weiteren Europa-Trilogie, nämlich der von Milo Rau, ging es in Christian Kirchmeiers Beitrag weiter. Darin untersuchte er nicht nur das tragische Europabild, das der schweizerische Regisseur in den drei Werken durch die Thematisierung von Vertreibung und Heimatflucht zeichnet, sondern auch die Besonderheiten, die Raus dokumentarisches Theater ausmachen. Dabei ging Kirchmeier insbesondere auf die parabatische Kommunikation ein, die der Regisseur oft zur Mitteilung politischer Inhalte nutze. In diesem Zusammenhang kam Kirchmeier auch auf die Rolle des Realismus im postdramatischen Theater zu sprechen, das nur die selbstreflexive Realität anerkenne und nicht mehr die Darstellung des Realen zum Ziel habe, sondern die Darstellung verwirklicht haben wolle.
Mit dem Vortrag „Europa im Zeichen von Religion und Nationalismus. Das Europabild in Michel Houellebecqs Soumission (2015) und Alexander Schimmelbuschs Hochdeutschland (2018)“ schloss Michaela Nicole Raß schließlich die Tagung ab. Sie wies zunächst auf die thematischen Ähnlichkeiten der beiden Romane hin, zum Beispiel auf die Kritik sowohl am Nationalismus als auch am Islam. Ein dominantes Motiv bilde auch die Schwächung der liberalen Demokratie, die als krisenanfälliges System portraitiert werde. Zusätzlich zur schwierigen Lage der Demokratie werde die EU durch das Fehlen eines erkennbaren gemeinsamen Ziels sowie die Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten geschwächt. Das Europa der Volkswirtschaften sei somit eine dystopische Vorstellung, die dem Kulturraum Europa entgegengestellt wird.
In der darauffolgenden Abschlussdiskussion kam das Thema des großen europäischen Werks ein weiteres Mal hoch. Die Frage, ob es ein solches Werk angesichts des Fehlens einer gesamt-europäischen Identität überhaupt geben könne, dominierte zu Beginn die Debatte. Anschließend wurde besprochen, wie man eine solche Identität durch Mediennutzung verdeutlichen bzw. stärken könnte. In Anbetracht der krisenhaften Lage der EU wurde zum Abschluss eine alternative Hypothese zu deren Entstehung diskutiert. Demnach seien die Schwierigkeiten, denen die EU sich stellen müsse, gar nicht auf die einzelstaatlichen Nationalismen, sondern auf die imperialen Gedanken Europas zurückzuführen.