Literatur ist ein einziges System der Verunsicherung.

Ein Gespräch mit Jochen Hörisch

Sie arbeiten so produktiv wie eh und je an großen Monographien. Wie ist Ihre momentane Arbeitssituation und die Einteilung Ihrer Tage?

Die Frage bringt mich insofern in Verlegenheit, als sich das ein wenig geändert hat. Mit Corona ist eine große Lethargie über mich gekommen, die ich auch als angenehm empfinde. Ich habe momentan alles andere als eine Schaffenskrise, aber ich merke, dass ich mich gerne ablenken lasse. Ansonsten bin ich gerne Zwangsneurotiker, wenn man so will und hochstapeln darf: nach dem Vorbild von Thomas Mann. Morgens arbeiten von halb zehn bis zwölf, zweieinhalb Stunden am Stück, nachmittags lesen, spazieren gehen, dies und das tun. Durch Corona ist das ein bisschen durcheinander.

Dieses Gespräch ist Teil einer Serie von Interviews, die in Nachbereitung des Workshops »Something weird …« – Eine Tendenz der Gegenwartsliteratur entstanden sind. Die anderen beiden Interviews wurden veröffentlicht bei schauinsblau.de.

Sie haben ja insofern ein schöne publizistische Auflockerung in der Coronazeit platziert, als Ihr Buch von der Kulturgeschichte der Hände erschienen ist. Sie sind also produktiv trotz dieser Zeit.

Doch. Ich gehöre nicht zu denen, die über Schreibhemmungen klagen können und konnten, auch während langer Jahrzehnte starker Beanspruchung im Massenfach Germanistik. Nun als sog. Emeritus empfinde ich es als Privileg empfunden, nur noch aus Muße und Lust heraus arbeiten kann.

Wie finden Sie Ihre Themen? Hatten Sie eine Kulturgeschichte der Hände schon lange geplant, gab es viele Vorstudien oder hat sich das Thema plötzlich aufgedrängt?

Ich muss zwei Antworten darauf geben und komme gleich auf die Hände zu sprechen. Ich hatte ja immer zwangsneurotisch die Vorstellung, dass ich die Ontosemiologie vorantreiben will. Ontosemiologie beschäftigt sich mit den Medien und Zeichen, die versprechen, mehr zu sein als normale Zeichen. Die Antworten, die ich versucht habe zu geben, sind: das erste große ontosemiologische Leitmedium unserer Kultur (nennen wir sie getrost die christlich-abendländische) ist das Abendmahl – es ist eben nicht nur ein Zeichen, sondern das Bezeichnet ist in dem Zeichen selbst enthalten. „Dies ist mein Leib.“ Dabei bin ich gar kein frommer Mensch; das wäre das seltsamste Missverständnis. Das gilt auch für meine frühen Forschungen zum Einhorn, an dessen Realexistenz ich ebenfalls nicht glaube. Doch am Einhorn hat mich immer das mittelalterliche Argument fasziniert, das da lautet: das Einhorn ist so, wie es heißt, und es heißt so, wie es ist. Das schöne Rilke-Sonett „O dieses ist das Tier, das es nicht gibt“ nimmt dieses Motiv auf. Das war, wenn Sie so wollen, ein etwas zwanghaftes Großprojekt, das ich bis hin zu meinem Buch „Bedeutsamkeit“ verfolgt habe. Jetzt komme ich aber zweitens auf mein Händebuch. Dies gehört zu der anderen Art von Büchern, bei der ich den Eindruck habe, die Themen kommen auf mich zu. Wenn ich mich selbst richtig analysiere, war es bei dem Hände-Buch der Ehrgeiz des pensionierten Germanisten: Kann man zu Goethe noch etwas grundsätzlich Neues sagen? Es gibt ja absurd viel Goethe-Literatur. Dann bin ich immer wieder über das Handmotiv bei Goethe gestolpert. Am Auffälligsten selbstredend bei Götz von Berlingen mit der eisernen Hand; bei Faust, dem Mann mit dem Telling Name, bei den Handwerkern, die Werther zu Grabe tragen, weil er Hand an sich gelegt hat. „Kein Geistlicher hat ihn begleitet“. Wenn Sie mal auf dem Trip sind, Goethe zu lesen und immer ein Kreuzchen zu machen, wo das Handmotiv eine Rolle spielt, müssen Sie einfach denken: Verdammt nochmal, das ist doch seltsam. Dann habe ich bibliographiert, wie es sich gehört, und mir gedacht, es muss doch irgendeinen Aufsatz wenn nicht eine Monographie über das Leitmotiv schlechthin bei Goethe geben: nämlich die Hand. Und siehe da, das gab es nicht, und dies war meine kleiner philologischer Triumph: Ja, man kann zu Goethe noch etwas Bedeutendes sagen. Damit bin ich dann zum Hanser Verlag gegangen, und mein Lektor Tobias Heyl sagte: Jochen, mach dir keine Gedanken; wir bringen dein Buch als Goethe-Buch, aber unter uns gesagt, wer interessiert sich heute noch für Goethe? Nenn es doch: Hände, eine Kulturgeschichte, dann müsste es aber auch mehr als „nur“  Goethe bringen. So kam das Buch zustande, das auch eine Beziehung zu meinen anderen Obsessionen hat. Die Hand Gottes, da wären wir wieder bei der Religion, die invisible hand des Marktes, da wären wir bei der Ökonomie, und das Verhältnis von Religion und Ökonomie ist, wenn Sie so wollen, eines meiner Leitmotive und Probleme.

Wenn Sie noch einmal zurückdenken an die Entwicklung Ihres Werkes: Wie haben sich die Leitthemen Ihrer Ontosemiologie ergeben? Religion, Geld, Ökonomie, Medien. Kann man sich die Entwicklung organisch vorstellen? War das ein plötzlicher Einfall?

Ich glaube, ich kann Ihre Frage einigermaßen präzise beantworten. Ich bin, wie originell, mit Kritischer Theorie groß geworden, Adorno, Adorno, Adorno.  Und seine Schriften lesend fiel mir auf, dass Adorno ja alles in Grund und Boden kritisiert, selbst wenn es die Qualität von Benjamins Texten. Adorno gehört ja zu den Köpfen, die alle intellektuellen Konkurrenten erst einmal niedermachen; mir fiel deshalb auf, dass Adorno dreimal in seinem Werk den mir damals unvertrauten Namen Alfred Sohn-Rethel fallenließ. Dann kam auch Sohn-Rethels  später Durchbruch mit Geistiger und körperlicher Arbeit. Das war Anfang der 1970er Jahre, und ich habe dann Sohn-Rethel selbst kennengelernt, und ich habe dann eine Rezension geschrieben in der Philosophischen Rundschau, die ja eigentlich sehr akademisch und reputierlich ist und mit Außenseiterphilosophen wenig am Hut hat. Sohn-Rethel hat sich sehr darüber gefreut, dass er in der Philosophischen Rundschau in einer ausführlichen Sammelrezension zu Wort kam. Wir haben uns dann kennengelernt und über die Altersdifferenz von 52 Jahren hinweg gut befreundet. Kurzum: Ich hatte eine sehr intensive Sohn-Rethel-Phase. Sohn-Rethel ist ja der große Theoretiker der Tauschabstraktion und des Geldes: In der Geld- und Tauschabstraktion ist das Transzendentalsubjekt versteckt. Ich wurde dann über diese Sohn-Rethel-Theorie auf Geldmotive in der Literatur aufmerksam; habe über die Frühromantik, Schlegel, Novalis promoviert; und dann gab es einige Aphorismen und Motive bei Novalis, bei denen ich dachte, das darf nicht wahr sein, Novalis verfügt über eine Sohn-Rethel-nahe Geldtheorie. Geld ist die Grundfigur der Abstraktion: Man setzt das Nichtidentische eben nicht identisch, sondern wertidentisch, äqui-valent.  Und so kommt schon Novalis zur  These, dass die Fichte’scheWissenschaftslehre geldbasiert ist, ohne dass Fichte dies erkennt. Die dem Geld innewohnende Real-Abstraktion ist, kantisch gesprochen, die Bedingung der Möglichkeit von Intellektualität und Wissenschaft. Seitdem sammle ich Geldprobleme, -Motive und -Themen in der Literatur. Das ging also schon sehr früh los. Ausgeführt habe ich das bereits in einem kleinen Vorwort zur Ausgabe von „Heinrich von Ofterdingen“ in der Insel-Taschenbuch-Reihe.

Wie darf man sich Ihre Arbeit vorstellen, wenn Sie sammeln. Sind das Karteikarten, tippen Sie das in eine Datenbank ein? Ist das eine Datei? Sind das Aufzeichnungen? Können Sie zu Ihrer Arbeitsökonomie noch etwas sagen?

Das läuft  völlig dilettantisch damit, dass ich bei jedem Buch, das ich gründlicher lese, mit dem Bleistift ein Register anlege. Das sieht so aus, dass da ein S. R. für, Sohn-Rethel. Es handelt sich dann um ein Motiv im Roman, in dem es um die Abstraktionskraft des Geldes geht. Oder ich schreibe ein E an den Rand, d. h. dann Erotik, oder ich schreibe Ö für  Ökonomie. Und entsteht die primitivste Form von Registern: am Buchende stehen die Seitenzahlen für Ö und E und S-R etc. Wenn ich heute an Projekten sitze – ich habe früh angefangen, mit Computer zu schreiben – habe ich eine Datei mit Materialien, und wenn mir irgendwas auffällt, dann kommt das in die Datei rein. Also, so einfach ist das.

Dann müssten Sie fast für Ihre Nachlass-Bibliothek einen Schlüssel mitgeben, dass man den Text entschlüsseln kann, der hinten drin steht.

Es ist eigentlich nicht schwer. Rel. heißt Religion, BuW heißt Brot und Wein etc., das ist leicht zu entziffern.

Weil Sie gerade schon von Ihrer Situation zur Frühromantik gesprochen haben. Ihre Habilitation behandelte ja dann Goethe, Keller, Thomas Mann. Haben Sie sich bewusst gesagt, Sie nehmen drei solche Giganten in der Literatur?

Ich bin bis heute Frühromantik-Fan, im Umkreis von Schlegel, Novalis und Schleiermacher kann man paradoxiesensibles Denken lernen. Was da in Jena geschrieben worden ist, ist ungeheuer. Vielleicht hing die Hinwendung zu Goethe und Thomas Mann mit meiner Verbürgerlichung zusammen, bin in Bad Oldesloe als Pfarrer-Enkel geboren, das ist jetzt ironisch gemeint. Wie immer auch – vielleicht, so dachte ich, könnte es ja  unter dem Strich sein, dass Goethe doch noch einen Kick besser ist als die frühromantische Gruppe. Es schien mir doch auf dieser Geld-Thematik-Spur erstaunlich, dass es Hunderte von Abhandlungen zu Goethe, Keller und Thomas Mann gibt, aber nichts zum dominanten Geld- und Ökonomie-Thema im Wilhelm Meister, im Grünen Heinrich und eben auch im Zauberberg. Und alle drei interessieren sich lebhaft für die Korrelation von Geld- und Gott-Motiven. Der dritte rote Faden ist bei allen drei die Liebe, der Sex. Im Wilhelm Meister bei Goethe erübrigt sich fast jeder Kommentar; beim Zauberberg dachte ich, man kann zu solchen gigantischen Texten doch noch was Neues zu sagen. Heute kaum mehr recht vorstellbar, aber noch in den Jahren nach 1968 galt in weiten Teilen der Germanistik die Devise: über Geld und Sex spricht man nicht. Wie kann das ein Thema der Geisteswissenschaften sein? Denken Sie etwa an das Leitmotiv des Crayon im Zauberberg: da muss eigentlich jedem Vollidioten auffallen, dass das ein Phallus ist, der da beschrieben wird – und zwar so, dass Lacan grüßen lässt. 

Können Sie den poststrukturalistischen Einfluss bei sich noch einmal genauer ausführen?

Ich hatte das Glück, ein Stipendium der Studienstiftung zu haben, und das ermöglichte mir ein Studienjahr in Paris. Da kam noch hinzu der Kontakt zu einer großbürgerlichen Familie in Paris. Ich wohnte auf dem Boulevard St. Michel und hatte es 40 Sekunden bis zum Haupteingang der Sorbonne. Aus meinen kleinbürgerlichen deutschen Verhältnissen war ich auf einmal, 72/73 als junger Mann gerade 21 Jahre alt, mitten drin im vibrierenden intellektuellen Paris. Ich hoffe, ich kann Sie beeindrucken, denn ich habe Lacan gehört, Foucault und Levi-Strauss, ich habe in den Seminaren von Genette und Greimas gesessen. Das war ein starker Kontrast zu Düsseldorf, wo ich mein Studium begonnen hatte, woran ich gleichfalls dankbar zurückdenke. Erwähnen möchte ich meinen genialen Lehrer Herbert Anton (bei dem ich später Seite an Seite mit Manfred Frank, Gerhard Kurz und Hans-Georg Pott Assistent wurde), auch Wolfgang J. Mommsen war ein großer Anreger. Dennoch oder eben deshalb war Paris ein unglaubliches Komplementärprogramm.

Dass Sie da dann Derridas Die Stimme und das Phänomen übersetzten, wie hat sich das dann ergeben?

Der Suhrkamp Verlag, bei dem meine unlesbare Diss zur frühromantischen Poetologie erschienen war, fragte mich einfach, ob ich das machen könnte.

Vielleicht im Anschluss daran – wie würden Sie denn die Dekonstruktion als Strömung heute bewerten, wie das voranschritt und wo sie heute steht? Ich denke da vor allem an Hans Ulrich Gumbrecht, der sagte, er habe noch nie eine philosophische Strömung erlebt, die so schnell aus der Mode gekommen sei, wie die Dekonstruktion. Wie werten Sie das heute?

Ich widerspreche meinem lieben Freund Sepp da gerne und ganz, ganz entschieden. Ich finde, das Ergebnis der Dekonstruktion ist bis heute schlechterdings überzeugend. Man kann diese aufwendigen Überlegungen der Dekonstruktion ja wirklich runterbrechen und die Suggestivkraft von Großbegriffen in Frage stellen: alles, was mit dem Suffix -heit und -keit endet oder -tas oder-tät, also Realität, Wirklichkeit, Wahrheit, Schönheit. All das sind keine transzendentalen Signifikate, wie Derrida so schön sagt. Das schließt übrigens einen Realismus auf der handgreiflichen Ebene – von dorther kommt letzten Endes auch mein Hände-Buch – überhaupt nicht aus. Es gibt keinen Sinn des Sinns, es gibt keine Bedeutung der Bedeutung, es gibt keine Supersignifikate. Ich hatte schon ein frühes intellektuelles Erlebnis noch in den Anfangssemestern in Düsseldorf, als mir ein schlauer Linguistik Dozent im Einführungsseminar sagte, sag doch mal ein Beispiel für Signifikate, und ja, blöd und schlau, wie wir waren als kleine Studis schauten wir uns an und dachten, na ja, kann man nicht sagen, ich kann kein Beispiel für ein Signifikat nennen. Denn wenn ich was sage, sage ich Signifikanten aus. Es gibt keine transzendentalen Signifikate – wenn man die Dekonstruktion so runterbricht und versucht, sie so prägnant wie möglich zu machen, dann hat sie schlechterdings Bestand. Ich weiß nicht, wie man dieses dekonstruktive Grund- bzw. Abgrundargument aus den Angeln heben kann. In Deutschland haben wir eben die seltsame Tendenz, ich bin jetzt auf der theorietechnischen Ebene, dass man immer so Superbegriffe haben möchte, die letztfundiert sein sollen: Verstehen, transzendentale Subjektivität, der Konsens, die herrschaftsfrei antizipierte Kommunikation und dgl. mehr. Bei Gumbrecht wäre das eben Präsenz, Präsenz, Präsenz, also dass man immer so privilegierte Begriffe hat, die immer noch den Stellenwert haben eines Fundamentum inconcussum, also die in gewisser Weise immer noch in der cartesianischen Tradition stehen und das halte ich mit der Dekonstruktion für unhaltbar. Es gibt keinen Grund des Grundes und es gibt keinen Letzt-Grund.

Hat sich daraus auch Ihr ganz großartiges Buchprojekt Die Wut des Verstehens ergeben, die Kritik der Hermeneutik von 88, das war ja ein großer polemischer Angriff auf diese Punkte.

Eine verrückte Geschichte, die ich gern erzähle. Mir ist es akademisch sehr gut gegangen. Fast alle Unileute sind immer beleidigt, von wem sie nicht rezipiert worden sind, wohin sie nicht berufen worden sind etc.. Ich habe keinen Grund zu klagen, mir ist es karrieremäßig gut gegangen. Ich war mit 36 in Mannheim auf einem Lehrstuhl. Nur eine Zeitlang zuvor sah es für meine fünfköpfige Familie wirklich nach einem Ende meiner Unilaufbahn aus. Ich war ja auch deklarierter Kittler-Schüler und -Freund, da war es wirklich verdammt schwierig, akademisch Karriere zu machen.  Ich hatte mich ab und an beworben (u.a. in Bern und Freiburg); die Stelle in Düsseldorf ging zu Ende, und ich hatte geschaut, was ich im Umkreis Theater, Dramaturgie, Journalismus oder dgl. mehr machen könnte. Ich hatte mich auf den Abschied von der Uni eingestellt. Da habe ich Die Wut des Verstehens geschrieben, und da hat jeder, auch wer mit dem Buch nicht einverstanden ist, zugeben müssen, dass das Buch nicht opportunistisch ist. Hermeneutik, Hermeneutik, Hermeneutik war das, was 95 Prozent der Geisteswissenschaftler in Deutschland damals machten.  Das ging so weit, dass ich ein Signal bekam, aha, du hast Aussicht auf Mannheim. Ich bin 1988 nach Mannheim berufen worden, also genau in dem Jahr, als das Buch erscheinen sollte. Ich habe im Verlag angerufen und gesagt, bitte publiziert das Buch noch nicht, lasst euch ein halbes Jahr Zeit, denn es könnte sein, dass ich einen Ruf kriege und der wäre gefährdet, wenn das Buch rauskäme. Dann wäre die Fraktion derjenigen, die gegen Hörisch sind, in Mannheim nochmal gestärkt. Das ist das Schicksal dieses Buches. – Und dann kam es raus und hatte ja eine gewisse Wirkung. Ich hatte mich natürlich auch gefreut, dass ich das entdeckt hatte, dass der frühe Schleiermacher – und Schleiermacher war ja nun der Gott der Hermeneutik, der eben von der Wut des Verstehens spricht – sagt: Die Wut des Verstehens bringt euch ganz um das Verstehen, um den Verstand. Man wundert sich manchmal, wie stark die Vorentscheidungen in den Geisteswissenschaften sind.

Ich kann mich noch gut an mein Grundstudium erinnern und da haben alle begeistert Ihre Theorie-Apotheke gelesen, die im Eichborn Verlag, also in der Anderen Bibliothek ursprünglich erschienen ist. Solche populären Projekte lagen Ihnen aber auch immer sehr am Herzen, also etwas Schwieriges, die Theorie, auf ungewöhnliche und populäre Art und Weise zu vermitteln.

Ja, rechnen Sie es mir als Arroganz an oder nicht: kompliziert schreiben kann jeder. Übrigens, wenn ich meine Diss anschaue, ist die so im Bann von Adorno, so prätentiös, dass ich mich selbst darüber lustig machen kann. Also, dass ich das kann, hatte ich, glaube ich, schon in frühen Jahren bewiesen. Ich wollte dann, nennen wir es getrost mit Luhmann Komplexitätsreduktion, so prägnant sein wie möglich, ohne Trivialitäten der analytischen Philosophie zu bedienen. Es heißt ja immer, dies oder jenes ist wahnsinnig kompliziert und wir brauchen noch drei Symposien und einen Sonderforschungsbereich, um das darstellen zu können. Nein, ich finde, das, was man sagen kann, kann man klar sagen, das sollte man nicht analytischen Philosophen und kritischen Rationalisten überlassen, sondern das kann man eben auch als Poststrukturalist oder Dekonstruktivist, man kann, siehe Freud, als psychoanalytisch oder kritisch-theoretisch inspirierter Kopf etwas klar sagen. Das war in der Tat mein Ehrgeiz: Komplexes so prägnant wie irgend möglich ausdrücken. Der Satz, dass alles viel komplizierter und komplexer ist, ist ja der am wenigsten komplexe und komplizierte Satz, den man überhaupt sagen kann. Denn er gilt in allen Kontexten zu allen Zeiten, an allen Orten. Genereller und weniger kompliziert kann kein Satz sein als dieser: es ist doch alles viel komplizierter, als du es darstellst.

Können Sie noch etwas zu Ihrer Freundschaft zu Hans Magnus Enzensberger sagen und wie sich auch die Zusammenarbeit mit der Anderen Bibliothek entwickelt hat.

Ja, Freundschaft ist ein großes Wort. Wir sind per Sie, ich war aber wahnsinnig geschmeichelt, weil für mich Enzensberger aus naheliegenden Gründen – das brauche ich nicht auszuführen – immer eine Leitfigur war. Er hat eben diese wirklich unabhängige Form von Intellektualität, die sich nicht vereinnahmen ließ für Lagerbildungen, sondern einfach hell ist, wach, aufmerksam, die sich kein X für ein U vormachen lässt. Das hatte ich an Enzensberger immer bewundert. Und natürlich war ich sehr geschmeichelt, als er mich fragte, lieber Herr Hörisch, wollen Sie nicht eine Mediengeschichte, das war ja der erste Titel, in der Anderen Bibliothek schreiben. Und dann habe ich beherzt ja gesagt – wie später auch bei der ebenfalls von ihm angeregten Theorie-Apotheke. Das waren richtige Auftragsarbeiten. Ich habe sonst nie Auftragsbücher geschrieben. Aber diese Angebote von Enzensberger haben mir eingeleuchtet –  wenn’s weiter nichts ist als eine Geschichte der Medien von den Anfängen bis heute oder ein Überblick zu den wichtigsten humanwissenschaftlichen Theorien …. Es gibt Angebote, die man nicht ablehnen kann. Ich sozusagen der Schüler, der Respekt vor einem Lehrer hat. Und dann habe ich das brav gemacht und hab’s nicht bereut.

Das Buch Der Sinn und die Sinne – wie haben Sie das dann geschrieben unter Ihrer Belastung als Professor? War das dann in den Semesterferien? Haben Sie die Zeit freigeschaufelt?

Das hatte ich konzentriert 99 geschrieben. Ich war wirklich in den Massenfächern Germanistik und Medienanalyse in der Lehre an der Erschöpfungsgrenze, nenne Sie es von mir aus nahe am burnout. Prüfungen, Sprechstunden, Gutachten ohne Ende. Ich will nicht überdramatisieren, aber ich ging ja auf die fünfzig zu und dachte, Junge, es ist genug. Und da kriegte ich das Angebot, für ein Semester nach Princeton zu gehen. Da hatte ich genau einen graduate Kurs, in dem waren genau sieben Leute drin, und ich hatte dann alle Zeit der Welt und habe 1999 dieses fantastische halbe Jahr in Princeton gehabt.  Jeden Tag habe ich mit Lust vormittags geschrieben und nachmittags habe ich gelebt und bin häufig nach Manhattan gefahren, habe viel gelesen und war in den großartigen Bibliotheken in Princeton. Also, man schreibt an so einem Buch einschließlich Vorarbeiten eigentlich länger als ein halbes Jahr, aber es ist im Wesentlichen ein Geschenk der Princeton-Zeit.

Wie war damals schon Ihre Arbeitsökonomie? Haben Sie gleich in den Computer geschrieben oder sind das handschriftliche Aufzeichnungen? Wie darf man sich das vorstellen?

Mit Computer. Ich hatte schon, es muss 85 gewesen sein, diesen Computer (eigentlich eine zum PC aufgerüstete Schreibmaschine) mit dem unwiderstehlichen Namen Schneider Joyce. Aber die klappte und klapperte nicht. Seit 1985 schreibe ich mit Computer.

Wenn Sie heute mal auf die universitäre akademische Landschaft blicken, die sich ja sicher fundamental geändert hat, im Vergleich zu den ganz früheren Jahrzehnten: Medienwissenschaft ist sicher in den ganz neuen Studiengängen auch so ausgeweitet wie noch nie. Wie beurteilen Sie das Studium von Medien heute an der Universität? Kann man das überhaupt so pauschal sagen?

Ja, also ganz pragmatisch habe ich auch wieder Glück oder Pech, wie man das betrachten will, dass ich eben diese doppelte Venia habe. Ich habe zu drei Vierteln meines Deputats Germanistik gemacht, Medienwissenschaften zu einem Viertel. Meine These wäre, dass die Germanistik heute leider, leider, leider bald den Status hat, wie die klassische Philologie ihn seit Jahrzehnten hat Germanistik ist kein Schlüsselfach mehr. Ich mache mir da wenig Illusionen. Die Germanistik ist, was ihre Forschungsleistung angeht, in sehr, sehr guter Verfassung. Die Jahrgänge, die ich glaube, ein bisschen überblicken zu können, sind nicht blöder als die Jahrgänge, welche diese ausgebildet haben. Die Germanistik heute ist nicht schlechter als die zu Wolfgang Kaysers Zeiten. Aber, aber, aber der Funktionsverlust, der ist unübersehbar, trotz der Produktivität der Germanistik wie auch der Komparatistik. Kurzum, das neue Grundlagenfach ist Medienwissenschaften. Wer heute ambitionierter Studi ist, ehrgeizig und so, der wird sich lange hinterm Ohr kratzen, bis er sich entscheidet, Germanistik zu studieren, der wird sich aber schnell einen Ruck geben und Medienwissenschaften studieren. Wir machen was mit Medien. Das ist ja nicht falsch. Die Youngsters heute wissen, dass Computer wichtiger sind, auch für die Karriere, als die durchgelesene Goethe-Ausgabe.

Dieser Statusverlust der Germanistik kommt hauptsächlich aufgrund der Änderung des Zeitgeistes oder, wie Sie geschrieben haben, Goethe ist jetzt nicht mehr so wichtig?

Nun, auch durch die Änderung der Medieninfrastruktur. Das ist aber jetzt eine sensationell unoriginelle These. Internet, PC und Smartphone usw. Durch Kittler berühmt geworden ist ja das Nietzsche-Diktum:  unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken. Warum sollen die Digital Natives noch Gutenberg-Galaxis-Autoren huldigen. Gibt ja auch keine Prämie mehr dafür. Ich lehre ja an der Uni in Mannheim, die sehr stark wirtschaftswissenschaftlich geprägt ist. Wenn Sie mal zu den früheren und heutigen Managergenerationen blicken, bemerken Sie sofort den Unterschied. Ich würde mal sagen: bis hin zu Herrhausen mussten Manager (zumindest in DAX-Konzernen) erfolgreich so tun, als hätten sie ein bildungsbürgerliches Hintergrundwissen. Das ist einfach nicht mehr der Fall. Es gibt sozusagen keine Prämie für geisteswissenschaftliches Wissen mehr. Für einen Headhunter, der versucht, Spitzenpositionen zu besetzen, ist die Frage, können Sie mir Hamlet oder Wilhelm Meister erzählen, nur noch lachhaft, das interessiert den Headhunter nicht und auch den Manager nicht und auch den Aufsichtsratsvorsitzenden des DAX-Konzerns nicht.

Das heißt, es schwingt bei Ihnen kein kulturpessimistisches Bedauern mit, dass Lesen wie früher heute nicht mehr den Status hat, sondern andere Medien?

Doch, doch, doch, nur ich bin abgeklärt und zynisch genug zu sagen: ich könnte jetzt traurig sein, die Altherrenklage führen und sagen, früher war das doch alles ganz anders. Ich merke auch, dass bestimmte Kompetenzen, die ich glaube zu haben, eben nicht mehr so wichtig sind. Sie schauen sich einfach an, aus welcher Ecke die Vortrags-Einladungen kommen. Etwa zu einem Gottfried-Keller-Vortrag? Ja, im Gottfried-Keller-Jahr. Aber die Einladungen, die höher aufgehängt (und besser honoriert) sind, die kommen natürlich aus dem Medienbereich. Das sind dann eben Internetthemen oder Medienthemen im weiteren Sinne.

Weil wir uns ja kennen gelernt haben vor allem im Workshop in München zur Gegenwartsliteratur, können Sie was dazu sagen, welche Rolle spielt Gegenwartsliteratur für Ihre Arbeiten, für Ihr Leben momentan? Greifen Sie zu Romanen von aktuellen Autoren?

Ich hatte eine wunderbare Zeit, die ist aber jetzt mehr als zehn Jahre her. Damals war ich Dauerrezensent für Gegenwartsliteratur in der Neuen Zürcher Zeitung. Das habe ich Andrea Köhler, der wunderbaren Kritikerin und Redakteurin, zu verdanken. Die aber dann als Korrespondentin auf einmal nach New York ging und nicht mehr für das Rezensionswesen zuständig war. So mikrophysisch sind die Machtverhältnisse in den Feuilletons. Ich konnte früher Andrea anrufen und sagen, ich möchte dieses oder jenes Buch rezensieren. Da war ich wirklich für gute zehn Jahre mit den wichtigeren Neuerscheinungen vertraut und bin auch ganz stolz darauf, dass ich die Qualität von Autoren wie Reinhard Jirgl frühzeitig erkannt habe. Ich war richtig neben dem Ordinariat Rezensent für Gegenwartsliteratur. Und da muss ich gar nicht drumherum reden, also die Intensität der Rezeption von Gegenwartsliteratur ist sozusagen von 10 Punkten auf 2 Punkte zurückgegangen, aber einige Autoren begeistern mich nach wie vor sehr.

Wer wäre das z. B.?

Jirgl hatte ich schon genannt, oder ich schaue mir kluge Realisten wie Klaus Modick oder Ralph Rothmann an, ich halte Daniel Kehlmann für einen wirklich bedeutenden Autor –  aber der ist nun alles andere als ein Geheimtipp. Natürlich lese ich auch weiter auch die Autoren, mit denen ich groß geworden bin, soll da heißen immer noch Handke, Handke, Handke, und natürlich lese ich drum herum auch was, nur das soll heißen, ich sehe wenig Fixsterne.

Weil Sie gerade Jirgl erwähnt haben – bedauern Sie das, dass er aufgehört hat zu publizieren und in der Öffentlichkeit zu sein?

Ja, ich finde es großartig, dass man, wenn man so viel Erfolg hat und viele Leute merken, was an Jirgls Werk dran ist, dass er sagt, ich habe eigentlich jetzt genug vorgelegt, also psychologisch gesehen: Respekt davor. Da ich sein Werk für sehr relevant halte, bedauere ich aber sein Verstummen.

Haben Sie sich eigentlich mal intensiver mit dem Werk von Martin Mosebach beschäftigt? Weil er sich ja auch mit Liturgie und ähnlichen Fragestellungen in der Essayistik auseinandersetzt.

Ich habe sogar eines seiner Bücher für Literaturen besprochen – und die Besprechung war negativ. Die Literaturen fuhren aber damals auf Mosebach ab, sie waren so fair, meine Besprechung zu lassen, aber es gab eine sehr positive Gegenbesprechung. Ich kenne Mosebach, wir schätzen uns, sind per Sie, aber uns trennt natürlich alles. Ich bin und bleibe der blöde, alte, linksliberale, ungläubige Kulturprotestant, obwohl ich Kirchensteuer zahle. Ich halte Mosebach wirklich für reaktionär und für einen ultramontanen Katholiken, also alles, was mir fremd ist. Wir waren gemeinsam wochenlang in Schloss Wiepersdorf im Sommer 2001, da haben wir uns kennen gelernt. Aber wie gesagt, wir sind damals beim Sie geblieben und das ist bis heute auch der Fall, obwohl wir beide Jahrgang 1951 sind. Mosebach und ich kennen uns seitdem gut.Das ist ein Verhältnis – ich hoffe – wechselseitiger Anerkennung, ich habe großen Respekt vor seinem Werk, macht ja auch immer Spaß zu schauen, was Leute, die ganz anders ticken, sehen, was man selber nicht sieht. Natürlich haben wir aufgrund seiner Aufmerksamkeit für Religion auch thematisch eine große Überschneidungsfläche. Ich stelle nur fest, dass die ultrakonservativen Kleriker, die er bewundert, so seltsame Heilige sind, dass ausgerechnet sie die katholische Kirche ruinieren. 

Weil wir uns ja auch über den Workshop zur Gegenwartsliteratur kennen gelernt haben, unser Kernthema war ja damals die Unheimlichkeit und die Frage, ob dies ein momentaner Trend ist, eine Tendenz im aktuellen Schreiben. Kommt Ihnen unsere Welt auch medial gesehen unheimlich vor? Sind Medien ein Gegengift dafür oder verstärken sie dieses Unbehagen noch?

Ja, grundsätzlich spüre ich schon das Unbehagen und merke – ich werde ja bald 70 –, dass ich einem Jahrgang angehöre, dem ein paar Argumente, die heute en vogue sind, unheimlich vorkommen. Für mich als alten 68er, der sich für 68 nicht entschuldigt, ist einfach unheimlich, dass viele Leute, die sich für kritisch halten, ernsthafte Versuche machen, die Sprache zu reglementieren. Das ist bei mir assoziiert mit 1984, mit Orwell, mit Klemperer. etc. Ich habe viel DDR-Verwandtschaft, die durften halt nicht Mauer sagen, die mussten öffentlich vom antifaschistischen Schutzwall sprechen. Ich finde es unheimlich, wenn heute im Namen des Guten sehr starke Institutionen Sprachreglementierungen erlassen. Natürlich spreche ich jetzt über Gender-Geschichten und Sternchen und sowas, dass sich da nicht bei mehr Leuten die Nackenhaare krümmen, das finde ich unheimlich. Ich alter weißer Mann bin irritiert darüber, dass kaum jemand merkt, wie rassistisch diese angeblich rassismuskritische Bezeichnung ist. Ich kann und will mir auch auf meine alten Tage ein Leben ohne Flirt und Frivolität nicht vorstellen –  auch als Mann, der seit 45 Jahren mit derselben Frau verheiratet ist. Ich finde diese neopuritanischen Tendenzen, die wir haben, unheimlich, wirklich unheimlich. Ich finde es unheimlich, dass Religionskritik, die immer ein Merkmal für Linke war (Religion ist Opium des Volkes), dass die wegfällt, wenn es um den Islam geht. Natürlich kann man den Islam kritisieren, so wie man die Katholische Kirche oder jede Kirche kritisieren kann. Mir wird wirklich angst und bange, wenn ich sowas höre. Natürlich ist die Universität kein safer Space, sondern ein Ort der Unsicherheit. Es war immer mein allererstes Erziehungsziel, junge Studenten zu verunsichern: denkt mal anders, als ihr bisher gedacht habt. Eine Warnung wie: die Lektüre der Antigone könnte Deine Gefühle verletzen könnte; da denke ich, das darf doch wohl nicht wahr sein.

Wie geht man mit dieser Verunsicherung um? Haben Sie da einen Weg gefunden? Oder muss man sie zulassen, diese Verunsicherung?

Man muss sie natürlich zulassen. Literatur ist ein einziges System der Verunsicherung, jedenfalls die gute Literatur. Ich kann doch nicht, was weiß ich, Ulysses lesen oder Das Schloss, den Mann ohne Eigenschaften oder Effi Briest, ohne verunsichert zu sein. Einige Sachen kommen mir so idiotisch vor, dass ich wirklich gar nicht mehr nachvollziehen kann, wie man auf so einer vergleichsweise trivialen Ebene anders argumentieren kann. Also, wer Literatur als Ort der Versicherung haben will, der ist falsch beraten, der soll nicht Literatur lesen. Das sind Sachen, die ich definitiv ablehne. Schlimmer als wenn Handke über Srebrenica Unsinn schreibt, der als solcher erkennbar ist. Ich schüttele den Kopf und nehme zugleich zur Kenntnis, dass einer der Autoren, der mit die besten Bücher vorgelegt hat, die es in der deutschen Nachkriegsliteratur gibt, zugleich politisch eine derartig desolate Urteilskraft hat, dass man aus der Irritation gar nicht rauskommen kann. Aber gerade das finde ich auf bestimmte Art und Weise interessant. Derselbe Autor, der Wunschloses Unglück oder Die Wiederholung geschrieben hat, verzapft einen Unsinn, der einen sprachlos macht. Mit dieser Verunsicherung will ich umgehen. Gute Literaturwissenschaftler sind Virtuosen der Verunsicherung.

Dieses Gespräch wurde im Jahr 2021 geführt.