Autorenstalking. Gespräch über Literatur und Schreiben

Ursprünglich erschienen auf: frau-und-gitarre.de. Ein Blog für Betreutes Lesen, 30.10.2015, 07.11.2015 und 14.11.2015

Dieses Interview mit Clemens Setz ist nun fast zwei Jahre alt. Es wurde in der Absicht geführt, in einem Blog veröffentlicht zu werden, eine Möglichkeit, die sich dann allerdings zerschlug. Seitdem ruhte es in der Schublade in der Hoffnung, zu einem geeigneten Zeitpunkt seinen Weg zu den Lesern zu finden. Nach Publikation des Romans „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, dessen Entstehen Setz hier schon andeutet, scheint nun der Zeitpunkt gekommen. Das Interview erscheint in drei Teilen und beinhaltet zwischen den Zeilen immer wieder Anhaltspunkte, die Clemens Setz’ Arbeitsweise und die Deutung seines großen Romans erhellen.

29. Dezember 2013 in einem Hotel in Graz

CS: Sie waren doch auch im Literaturarchiv in Marbach, als wir uns geschrieben haben? Ehrlich gesagt weiß ich gar nichts vom Deutschen Literaturarchiv, außer dass Nachlässe dort sind. Ist das die Hauptaufgabe?

KW: Es ist eine der vielen Aufgaben. Das Haus ist voll von Literatur und labyrinthisch. Sie waren noch nie dort?

Leider nicht. Ich habe nur einmal den Katalog über den Sebald-Nachlass gesehen. Den Nachlass verwaltet ja Andrew Wylie, genannt „der Schakal“. Er ist der legendäre Literaturagent, der einmal einen Verlag kontaktierte und sagte: „Ich bin der neue Agent von Salman Rushdie. Ich bekomme eine Million für seinen neuen Roman.“ Er wurde gefragt, worum es in dem Roman gehe, das wisse er noch nicht, sagte er, aber der Vertrag kam zustande. Dann hat er bei Rushdie angerufen und sagte: „Wenn Sie mein neuer Klient werden, bekommen Sie eine Million.“ Ein völliger Bluff. – … Ich mag Sebalds Texte und hätte ihn gerne einmal irgendwo gesehen.

Sie haben sich viel mit Sebalds Werk beschäftigt?

Ich habe fast jede Zeile von ihm gelesen. Mich interessiert auch seinen Hang zur Entomologie und seine im Hintergrund stehende Vorliebe für Insektenliteratur.

Sagt Ihnen die Münchner Malerin und Autorin Anita Albus etwas?

Gibt es nicht was von ihr in der Anderen Bibliothek?

Genau. Sie arbeitete viel über Pflanzen und Insekten, momentan über Schmetterlinge, und sie und Sebald kannten sich und sie teilten diese entomologischen Vorlieben. In den Archiven findet man noch mehr über den Zusammenhang Albus-Sebald.

Die Archivwelt scheint mir ein bisschen so was Alienmäßiges zu sein. Merkwürdig und faszinierend. Die Welt der Literatur ist dort, aber sie ist verschlossen und nicht sofort jedermann zugänglich ist. Vor kurzem habe ich in der WELT über diese Salinger-Geschichten geschrieben, die in einem Archiv liegen. Es muss bei der Benutzung jemand hinter einem stehen und kontrolliert wahrscheinlich, ob man ein Fotohandy dabei hat. Wobei: Mit Google Glass wird das dann schwierig. Es gibt einen Menschen auf der Welt, der in seinem Pass bereits die Bezeichnung „Cyborg“ stehen hat. Er hat eine angeborene Farbsehschwäche. Und mit seinem Rücken ist ein Gerät verbunden, durch das sich Muster ergeben, wenn er Farben sieht. Das Gerät sieht die Farbe und gibt ihm einen gewissen Eindruck. Dieses Gerät darf man ihm nicht wegnehmen. Es gehört zu seiner Persönlichkeit. Wie ein Implantat. Er dürfte wahrscheinlich die Salinger-Geschichten in Anwesenheit dieses Geräts lesen. Das ist nur meine Phantasie, dass diese dummen Geschichten, diese Strafgefangenen, endlich einmal befreit werden. Das ist diese Welt der geschlossenen Archive, wo man einen Schritt hin machen muss, physisch anreisen, sich anmelden, eine interessante Welt. Viel Weltliteratur liegt dort noch. Von Mark Twain gibt es noch viele unveröffentlichte Sachen und von Kafka irgendwo in Tel Aviv. … Andererseits ist unser Verhalten als Fan auch etwas Ekelhaftes, etwas Stalkermäßiges. Salinger war da ein bisschen so was wie ein Spiegel, aus dem man als der Stalker geblickt hat, der man ist. Ich hab mal auf Google Earth sein Haus gesucht und dachte mir, o mein Gott, was machst du da? Archivare sind wahrscheinlich deshalb eine so häufige Protagonistenwahl für Autoren, die selbst keine Archivare sind, voller romantischer Vorstellungen.

Was die eigene Ordnung und die Katalogisierung der eigenen Texte betrifft: Wie machen Sie das mit ihren Sachen?

Bei mir wird’s keinen Nachlass geben. Ich schreibe mit der Hand und mit Computer, aber die Handschrift von mir ist nicht lesbar. Ich schreibe in kleinen Blockbuchstaben und kann meine Handschrift dann selbst schwer lesen, aber sie ist eben sehr schnell. Ich habe noch niemanden getroffen, der sie lesen kann.

Dann müssen sich die Setz-Forscher eben einarbeiten.

Ich glaube aber auch nicht, dass das bei meinen Sachen eines Tages noch notwendig sein wird. Es gibt immer mehr Autoren, und die alten werden unwichtiger. Wer redet heute noch über Wieland? Es interessiert niemanden mehr.

Eine beliebte Praxis bei heutigen Autoren ist ja die Bildung des „Vorlasses“.

Ja, leider ist der Buchtitel von Musil „Nachlass zu Lebzeiten“ gar kein Witz mehr.

Aber wie schätzt man den Wert der nachgelassenen Materialien? Für verschiedene Briefpartner einen Wert ansetzen und dann hochrechnen?

Das wäre ja witzig. Da muss man dann bei den Verhandlungen darauf achten, dass ein Briefpartner später vielleicht einmal bedeutend wird. Bei der Aufrechnung des Wertes wird’s dann mathematisch lustig, das gefällt mir dann wieder. Man müsste einen Algorithmus verwenden, der alle Briefpartner umfasst. Es vernetzt sich dann auch, umfasst alle Briefpartner, und das System befruchtet sich gegenseitig als Multigrid, wie so finite Elemente in der Baustatik. Das wäre ja super. Als junger Autor findet man solche älteren Autoren lächerlich, die alle schon reich sind und sich dann auch noch um ihre eigene Bedeutung kümmern. Aber wenn man’s lang genug macht, wird man wohl automatisch so, denn es scheinen alle so zu sein. Oder viele. Ist es überhaupt möglich zu verhindern, so zu werden?

Wahrscheinlich ist es sehr schwierig …

Es gibt gewisse Tics bei Menschen mit Tourette-Syndrom, für die ihre Tics lange Zeit ein Feind gewesen sind [macht pantomimisch Zuckungen vor], so ein Ticken mit dem Kopf zur Seite und das laute Aussprechen von Wörtern. Sie haben das nicht wie einen Tic zu ertragen gelernt, sondern der Druck, der von allen Seiten auf die Persönlichkeit lastet, formt so jemanden um … Jetzt ist es ein Teil von ihnen. Und so ähnlich ist vielleicht bei Autoren der Formdruck von außen, von einer Gesellschaft, die einem erklärt, wie bedeutsam man ist. Irgendwann kann man dem Druck nicht mehr standhalten und weiß nicht mehr, dass man ihm standhalten sollte, wohl weil man evolutionäre Vorteile bekommt. Man ist abgesichert und glücklich.

Aber es kommt auch aus den Schriftstellern selbst.

Natürlich. Ich habe auf Twitter gelesen, Frank Norris hat immer Menschen angestellt, die bei Treffen mit Journalisten – so wie bei uns jetzt – am Nebentisch saßen und die dann zu ihm kommen und fragen: „Sind Sie der berühmte Schriftsteller?“ Er hat also bezahlte Fans.

Oh, dann warte ich, bis Sie jetzt jemand anspricht.

Dann gibt es die Geschichte von einem Schriftsteller, dessen Namen ich jetzt nicht mehr weiß. Man kann seit einiger Zeit die Nobelpreisnominiertendatenbank im Internet durchsuchen bis 1950. Man kann einen Namen eingeben und sieht, wie oft jemand nominiert war. Es steht immer dabei, wer einen nominiert hat. Auch bei diesem besagten Schriftsteller. Ihn hat irgendein Literaturwissenschaftler nominiert, aber es stellte sich heraus, dass dieser Name ein Pseudonym des Autors war. Er hat sich selbst nominiert. Oder V.S. Naipaul, der nur durch Überheblichtuerei die Welt verzaubert hat, bis alle überzeugt waren.

Bei Elfriede Jelinek ist das Verhältnis umgekehrt proportional. Sie sagt, sie werfe alles weg. Das umgekehrte Extrem des sich selbst sammelnden Autors.

Wunderbar, ja. Ich mag ihre Aussagen über ihr Werk sehr gern. Sie sagt zu Leuten, die ihre Stücke inszenieren: „Tun Sie, was Sie wollen. Was geht’s mich an?“ Ich kann nicht alles von ihr lesen; der im Internet veröffentlichte Roman sagte mir nichts. Aber sie ist ein an der Welt verrückt gewordener Mensch. Es ist immer alles eine Spur zu hell bei ihr. Man schaut auf eine Seite und denkt sich, irgendwie scheint die Sonne die ganze Zeit drauf. Es ist zu grell, ich brauch eine Sonnenbrille beim Lesen. Wie Wolfgang Herrndorf, der vor einem Jahr, wie auf seinem Blog zu sehen war, alle seine Aufzeichnungen in der Badewanne ertränkt hat. Ziemlich schlimm, das sehen zu müssen. Das Herrndorf-Blog hat den Tag immer in sein Licht getaucht. Man hat eine Seite gelesen, und es war zu intensiv.

KW: Für Sie wäre so ein Internettagebuch nichts?

CS: Das weiß man nicht. Ich kann nicht sagen, was ich tue, wenn das Leben zu Ende geht. Ich habe schon einmal gedacht, ich wäre schwer krank. Es war der Fehler eines Arztes, der zwei Werte vertauscht hat. Es war Gott sei Dank nicht so. [Blickt aus dem Fenster:] Ich sehe gerade ein Tandem; schön …

Sie haben doch auch eines.

Ja. Graz hat den Vorteil, dass es viele Radwege gibt. [Erschrocken:] Ist das jetzt schon ein Interview?

Alles, was Sie sagen, wird eingebaut. Darf ich noch einmal fragen, wie Ihre Arbeitsorganisation aussieht?

Ich hab Notizbücher und Notizhefte. Große Hefte, und ich schreibe zwischen die Kästchen eine oder sogar zwei Zeilen. Ich schreibe sehr klein. Es ist langsamer und trotzdem angenehm schnell. Ein bisschen so wie diese alten Nadeldrucker, die dieses elektrische Geräusch machen [ahmt das Geräusch nach], dieses Seismographische. Es hat dann etwas von seismographischen Nadeln. Es ist sehr angenehm. Meinen allerersten Roman habe ich so mit der Hand geschrieben. Es war der erste Versuch, und ich glaube auch, dass er nicht ganz fertig war. Es war aber eine große Menge an Text.

Haben Sie ihn nicht transkribiert?

Nein, habe ich nicht. Er bleibt so und ist unpubliziert. Ich habe es mal umgerechnet; er müsste mindestens tausend Seiten haben im Druck. Mittlerweile skizziere ich das meiste mit der Hand und habe den Laptop nebendran. Ich schreibe den ungefähren Verlauf einer Szene auf oder nur einen Satz. Ich bekomme fast ein schlechtes Gewissen, darüber zu reden, weil es so banal ist.

Mich interessiert diese Thematik des Schreibens wirklich sehr.

Lange Szenen formuliere ich dann meist am Computer aus. Oder, was in der letzten Zeit oft passiert – ich habe es mir abgeschaut von Nicholson Baker, der seine Bücher sich selbst diktiert und sie dann abschreibt. Teils mache ich das nun auch so: Sein letztes Buch „Travelling Sprinkler“ hat er sich beim Autofahren diktiert. Nun hab ich mir also auch angewöhnt, Ideen aufzunehmen auf iPhone und sie dann zu extemporieren oder Dialoge so durchzuexerzieren. Das geht viel leichter. Ich hätte früher darauf kommen sollen. Ich erzähle privat auch gerne etwas mit verstellten Stimmen. Die Hauptarbeit ist aber am Computer, und ich stehe viel auf, gehe herum, spreche mit mir selbst.

Drucken Sie die Sachen dann gleich aus?

Nein, eher nicht.

Aber Sie speichern doch wohl auf interne Festplatte ab.

Ja, das ist wichtig. Ich habe eine Gmail-Adresse und schicke die Dateien dorthin. Ich habe mit meinem alten MacBook schon einmal einen Head-Crash erlebt. Plötzlich kam dieses Spinning Wheel of Death, der Mauszeiger wird zu einem sich drehenden Farbrad. Ich dachte, der Computer hat sich aufgehängt, und ich hab ihn ausgeschaltet und wieder ein. Es kam nur ein dunkler Bildschirm und der Begrüßungsakkord, aber er hat nur ein leises Ticken von sich gegeben. Ich habe ihn nochmal aus- und eingeschaltet, und das war mein Fehler. Das Ticken ist das Schabgeräusch des Lesekopfs der Festplatte, der diese zerschabt. Wenn man es immer wieder anschaltet, macht man die Festplatte physisch kaputt. Meine literarischen Sachen hatte ich noch woanders gespeichert. Die Erzählungen wären sonst alle weg gewesen.

Die waren also noch nicht publiziert?

Nur teilweise, und inzwischen sind es auch Hunderte. Es ist wenig veröffentlicht, weil ich generell viel schreibe.

Wie ist Ihr weiterer Fahrplan?

Nun erscheint als nächstes der Gedichtband, aber der ist nur kurz. Das war eine lustige Idee, weil ich so viele Gedichte habe, aber eigentlich immer dem Lyrikbetrieb ferngeblieben bin, weil mir diese ganzen Poesiefestivals so merkwürdig vorkommen. Deutschsprachige Lyrik hat auch etwas total Nerviges, auch wenn das überheblich klingt. Ich merke, dass der Fehler bei mir ist, aber ich kann 90 Prozent aller Gedichte nicht lesen. Es ist ein prätentiöses, celanmäßiges Zeug, verrätselte Bekenntnisse und immer „Du sagst / Sagst du“. Es hat immer so einen sprachkritischen, sich selbst hinterfragenden Ton, obwohl das nichts Schlechtes ist. Aber das ist der Kitsch der heutigen Zeit. Wie früher Waldesrauschen und Regen und Naturmystik ist heute die Sprachhinterfragung immer noch da, obwohl das schon lange vorbei ist. Und vielleicht wird dann auch noch ein Radiohead-Zitat eingebaut.

Wie würden Sie Ihre Sachen da eingruppieren?

Oh, ich spiele gar nicht in dieser Liga. Meine Gedichte sind nur harmlose Strohsterne, kleine Spielereien. Ich bilde mir nichts drüber ein. Viele sind nur Fundstücke und historische Kuriositäten. Alte Briefstellen bei Darwin, Ausschnitte aus einem Biologiebuch, kleine Essays im Grunde, die so geschrieben sind, damit man sie langsam liest. Ich kann es nicht besser als die von mir gedisste Lyrik. So Facebookpostings. Aber es macht mir Spaß, solche Gedichte zu schreiben.

Welches Ihrer bisher publizierten Werke ist das für sie bedeutendste?

Ich wüsste nichts „Bedeutendes“, was ich je geschrieben habe. Das noch Unveröffentlichte ist ganz einfach geschrieben, eine einfache Geschichte. Sonst wirke ich dem Leser immer so entgegen, und er muss so viel tun bei mir. Dinge zusammenbauen, es gibt Sprünge. Am fremdesten ist mir jetzt mein Debüt „Söhne und Planeten“. An einiges in den „Frequenzen“ denke ich mit einer gewissen Nostalgie. – Mein Plan ist nur das Buch, an dem ich jetzt gerade schreibe. Dieser Roman ist fast fertig, befindet sich in den letzten Monaten. Er ist um die 900 Seiten. Ich hoffe, ich kann ihn noch etwas straffen. Ich habe so acht oder neun Romane zuhause liegen, die in verschiedenen Stadien stecken. Manche ruhen schon länger und wollen noch leben. Wie gesagt, drei sind in Hauptarbeit. Es ist wie bei den parallelen Downloads von iTunes: Man kann sich mehr als einen erlauben. Aber drei ist eine gute Zahl für eine normale Geschwindigkeit. Mein Plan ist nur, das zu Ende zu machen, und hoffentlich kann man es veröffentlichen.

Wie halten Sie das in der morgendlichen Arbeit auseinander? Gibt es einen Plan?

Nein, den gibt es nicht. Die Frage ist komplexer als ihre Antwort. Man tut das, wonach es einen verlangt. Man hat z.B. zwei Katzen zuhause, und die wuseln durchs Zimmer und sind in der Stimmung, mit mir zu spielen. Ein paar Spielzeuge liegen am Boden: Welches nimmt man? Beim Schreiben ist es genau dieselbe Frage. Um Non-Bullshit zu reden: Dass das eine Arbeit ist, was ich mache, ist eigentlich nicht selbstverständlich. Dass man mir Geld bezahlt, ist ein arbiträrer und unerklärlicher Zustand. Das bleibt er auch, es sei denn, dass plötzlich eine Publikation eine Bedeutung hat in der Welt. Dass ich dafür Geld bekomme, ist eine temporäre und höchstwahrscheinlich vorübergehende und befristete Angelegenheit. Also ich will mich in dieser Sachlage nicht auf eine Arbeitsphilosophie festlegen. Ich kann es nicht so empfinden, als ob ich hier eine Aufgabe hätte. Es ist nur ein Hobby, und ich werde dafür bezahlt, was ein unfairer, privilegierter Zustand ist. Es ist wirklich witzig, dass mir etwas, was so wenig bedeutet, so viel bedeutet. Mir bedeuten oft Dinge ganz viel, die sonst niemandem etwas bedeuten. Deshalb fühle ich mich auch beschämt, wenn Sie nach mir fragen. Man fühlt sich wie ein Hochstapler.

Sie haben unlängst auf Christian Kracht eine Laudatio gehalten. Kennen Sie ihn schon länger?

Nein, ich habe ihn letztes Jahr kennengelernt. Im selben Jahr habe ich für zwei Autoren eine Laudatio gehalten, einmal für Art Spiegelman beim Unseld-Preis und für Kracht. Dass Christian Kracht letztes Jahr seinen ersten Preis bekommen hat, ist ja schon seltsam. Er ist ein viel größerer Autor und müsste mehr Preise bekommen.

Haben Sie sich beteiligt an der Debatte über Christian Kracht? Ihre Rede ist ja im Debatten-Band abgedruckt.

Ich bin in der Laudatio kurz darauf eingegangen, aber sie war so unfair, diese Debatte, durch eine extreme Lesart. Es ist ärgerlich, dass manche Stimmen solch ein Gewicht haben.

KW: Sie schreiben doch auch an einem Essayband.

CS: Ja, ich habe zumindest viele Essays geschrieben. Das Schönste ist, wenn man über Dinge schreibt, von denen man verzaubert ist, die aber nur wenige Leute kennen. Ich habe eine Idee für einen Essayband, der ein übergreifendes Thema hat. Mein Thema wären Zeitkapseln, Dinge, die verbuddelt und wieder ausgegraben werden, Räume, die versiegelt werden. Viele meiner Essays haben so eine Zeitkapseldimension. Es sind eigentlich kaum welche veröffentlicht. Im Internet gibt’s Zeitkapseln und verschiedene Projekte dazu. Meine Lieblingsautoren haben häufig etwas Essayistisches oder sind selbst große Essayisten. Oder manche Autoren schreiben nur einmal einen Essay, wie Kafka über die Aeroplane in Brescia, der hinreißend und merkwürdig ist. Oder mein Lieblingsessay von Nicholson Baker über die Dinge, die auf Flugzeugflügeln stehen. Sein Titel ist „No Step“ im Buch „The Way the World Works“. Ich hab geheult am Ende, so wunderbar ist er.

Was ist mit poetologischen Essays zum eigenen Schreiben und Werk oder einer Poetikvorlesung?

Ich muss mal überlegen, ob ich das schon gemacht habe. Manchmal ist das implizit mit dabei. Ich erwähne es hier und da.

Wie in so einer Poetikvorlesung zum Beispiel …

Ah, das könnte ich nicht. Manchmal kann das schon sehr interessant sein. Ich denke an die wunderbaren Poetikvorlesungen von Ernst Jandl. Es ist großartig, wenn das jemand kann. Die einen Autoren fragt man und andere sollen einfach ihr Werk machen und möchten nicht gestört werden darin. Und manche möchten auch keine Vorträge halten. Ich habe nichts gegen einen Vortrag, aber ich hätte nie solche Ausführungen über mich selbst gemacht. Einmal habe ich in einem Aufsatz in Volltext über Donald Barthelme und seinen Einfluss auf mich geschrieben. Er war Teil der Reihe über die verlorengegangenen Meisterwerke, die jetzt abgeschlossen ist, weil ich es nicht abbrechen wollte, wenn es langweilig wird. Bei Barthelme fand ich toll, dass er eine Idee pro Text hat, zum Beispiel plötzlich taucht ein Ballon in einem Text auf und man denkt sich: großartig. Je weniger diskursiv-prosaisch ein Werk ist, desto interessanter ist so eine Poetikvorlesung, wenn ein Autor das mal probiert. Wenn ein Autor sehr nah am gesellschaftlichen Geschehen schreibt, denkt man oft: Wofür jetzt auch noch so viele Selbstauskünfte?

Weil Sie Jandl erwähnt haben: Dies ist ja, wie Sie schon einmal schilderten, eines Ihrer Initiationserlebnisse in die Literatur gewesen.

Es war eines der ersten Erlebnisse mit Literatur, bei dem ich mir gesagt habe: Das ist doch ungewöhnlich, dass so was geht, dass man bei einem Gedicht zu Tränen gerührt werden kann.

Haben Sie denn eigentlich heute schon geschrieben?

Sicher. Ich muss mich nicht dazu zwingen. Es ist kein hartes Regiment, falls es aus irgendeinem Grund einmal nicht geht. Falls ich mich nicht wohl fühle, geht es eben nicht.

Sie schreiben aber wirklich ab fünf Uhr früh?

Ja. Im Winter ist es nicht ganz so früh, da bleibe ich etwas länger liegen. Es hängt von meiner Katze ab. Sie wird meistens gegen fünf Uhr wach und ich dann auch.

Ist sie beim Schreiben dabei?

Nein. Sie kümmert sich um ihre eigenen Projekte in der Wohnung. Aber heute war’s etwa sieben Uhr. Fast schon etwas zu spät. Entstanden ist es eigentlich durch mein Studium damals. Ich musste ganz in der Früh aufstehen, um überhaupt noch irgendwas zu schaffen.

Sie haben Ihr Studium nicht abgeschlossen?

Nein, leider nicht. Ich war gerade am Ende und hatte schon das Gespräch über das Thema meiner Abschlussarbeit. Dann habe ich nicht mitbekommen, dass eine Lehrplanreform geschehen war und dass man mir zwanzig Stunden aberkannt hatte, die nicht mehr anrechenbar waren. Es gab eine Äquivalenzliste von altem und neuem Stundenplan, völlig sinnlos. Dann hätte ich noch drei Semester studieren müssen. Das hat mich sehr demotiviert. Mein erster Roman erschien zu dieser Zeit, und ich dachte mir, ich mache eine Studienpause so ein halbes Jahr etwa. Dann hab ich noch was drangehängt. Bis 29 dachte ich mir immer, ich muss fertig studieren. Mittlerweile ist mein Studium zur Gänze verfallen. Schade. Aber Lehrer wäre für mich sowieso das Falsche gewesen. Aber ich hätte es schon fertigmachen sollen. Allzu viel denke ich aber auch wieder nicht dran.

Lesen Sie eigentlich hauptsächlich englischsprachige Literatur, da Sie sich in diesem Metier zwischen Samuel R. Delany, Thomas Pynchon und David Forster Wallace besonders gut auskennen?

Schon, weil ich die Sprache gut kann. Mein Französisch ist nicht schnell genug. Ich muss immer viele Wörter nachschauen. Andere Sprachen kann ich noch schlechter: Beim Italienischen brauche ich noch länger. Wenn ich versuche, eine Kurzgeschichte von Tschechow zu lesen, muss ich jedes fünfte Wort nachschauen. Es ist fürchterlich. Alles außer Englisch kann ich nicht gut, aber jetzt lerne ich gerade Niederländisch zum Spaß, und Schwedisch möchte ich dann auch wieder mal auffrischen.

Sie sind sprachbegabt.

Begabt nicht, aber ich find es angenehm. Vielleicht ist das eine gewisse Begabung, wenn man’s freiwillig tut. Trotzdem bin ich kein polyglotter Mensch, weil ich es nicht so lange behalten kann. Vom Englischen kann ich ins Deutsche wenigstens gut übersetzen. Mein Lesen der englischsprachigen Literatur hat auch damit zu tun, dass es gut ist, keinen deutschen Sound zu lesen, wenn man selbst an einem deutschen Text intensiv arbeitet. Gerade eben habe ich ein Buch gelesen, das ganz phantastisch war, eines für die Zeitschrift New Yorker von einem Schriftsteller namens Hilton Als. „White Girls“ ist der Titel. Es sind lauter Essays nach der New-Yorker-Tradition zwischen Autobiographischem und Cultural Criticism. Dann lese ich diesen speziellen Sound, der sich aber nicht auf meine deutschen Formulierungen niederschlägt. Wenn man Sebald liest, kann man einen Tag nicht mehr anders denken als in diesen Sätzen.

Lesen Sie jemandem Ihre eigenen Sachen vor?

Nein, nein. Ich verstehe auch nie, wenn Autoren sagen, ihre Frau sei der erste Leser, was ihr nicht gefalle, fällt raus. Ich möchte keinem Menschen eine solche Macht geben, die dieser vielleicht gar nicht will. Eine komische Aufgabe von eigener Verantwortung. Ich verstehe es bei Leuten, die geniale Leser sind. Kathrin Passig ist angeblich eine solche Leserin, die jeden Fehler hört.

Wie läuft es mit Ihrem Theaterstück, an dem Sie schreiben?

Ja, ich schreibe was Längeres. Über Tinnitus. Ich habe oft beschrieben, dass ich das selbst habe, und dann gab’s immer Reaktionen darauf, die sonderbare, enigmatische und aufbewahrenswerte Szenen waren. Ich habe ein paar davon aufgeschrieben und dachte mir, dass es eigentlich Theaterszenen sind, die nachgespielt gehören. Ich habe das Stück halb fertig. Das Problem ist, dass meine Idee wäre, dass ab dem Beginn des Stücks in der gesamten Länge ein kontinuierlicher Pfeifton eingespielt wird, so dass man drei Stunden hört, was ich höre. Vielleicht ist es auch unfair. Wozu die Leute quälen? Das wäre eine echte Publikumsbeschimpfung. Die bei Handke ist ja so poetisch. Eine wirkliche Beschimpfung müsste sich bis zur Langeweile wiederholen. Mein Theaterstück wäre eine Publikumsbelästigung.

Aber Sie bleiben doch dran an dem Projekt?

Ja, schon. Andererseits … Ich habe jetzt auch ein Drehbuch geschrieben. Eine eigene Geschichte. Aber es ist so weit entfernt von einer Realisierungsmöglichkeit, doch ich würde mich freuen. Aber vielleicht druckt man’s mal als unaufführbares Lesedrama.

Haben Sie einen Buchtipp? Was unbedingt lesen?

Mir fällt immer zu viel ein. Dann blockiert alles und mir fällt gar nichts mehr ein.

Die Lieblingsbücher des Mathematiklehrers Clemens Setz in „Indigo“? Eines davon trägt den Titel „Die Känguruhhefte“ …

Ja, das sind alles meine Lieblingsbücher. – Es ist gibt einen japanischen Roman, der nur auf Französisch übersetzt ist. Er heißt „Yapou“ und wurde geschrieben von Shozo Numa. Der Autor ist so eine Pynchon-Figur, und hat nach nur einem Buch zu schreiben aufgehört. Es ist das wahrscheinlich Extremste und Ungewöhnlichste, was ich je gelesen habe. Der Untertitel lautet „bétail humain“: Menschliches Vieh. Es sind drei Bände, um die zweitausend Seiten. Ich würde empfehlen, dass das ins Deutsche übersetzt wird. Es gibt nichts Vergleichbares. Vom Wikipedia-Eintrag bekommt man leider den Eindruck, dass es nur eine große SM-Phantasie ist, Marquis de Sade umgekehrt. Es spielt in der Zukunft, in der alle Japaner als Yapous gezüchtet werden. Es klingt schockfaktormäßig, ist es aber nur am Anfang. In bestimmten Passagen wird es übermäßig poetisch, eine Poesie, die einen förmlich aufbläht und verrückt macht unter der Oberfläche einer übertriebenen Sci-Fi-SM-Welt. Es ist ein Buch, das einen vollkommen verändert. – Ein besserer Tipp wäre Michel Faber, gebürtiger Holländer, der in Australien aufgewachsen ist und nun in Schottland lebt. Nicht erschrecken: Sein Buch sieht aus wie ein historischer Roman, 1200 Seiten aus der viktorianischen Zeit; die Hauptfigur ist eine Prostituierte. „Das karmesinrote Blütenblatt“. „Crimson Petal and the White“. Auch ein kitschiger Titel. Versuchen Sie das mal zu lesen. Es wird sicher ein lustiges Erlebnis. Der Anfang ist merkwürdig, weil dauernd der Leser angesprochen wird.

Spielt Freiheit für sie eine Rolle? Eine große Frage, ich weiß.

Wirklich eine große Frage. Aber interessanter als diese Frage ist ja die, wieso ich in der Position bin, so eine Frage gestellt zu bekommen. Ich weiche etwas aus. Aber: Welche Menschen werden gefragt, welche nicht? Ein Großteil der Menschen wird ja gar nicht gefragt. Sonst sind solche Fragen ein Ordnungsinstrument für Menschen, denen man diese Frage zutraut, und die, die man nie fragen würde. Vielleicht wäre mehr Freiheit da, wenn man nicht fragen würde. Aber es ist auch mal gut, wenn ich einfach zugebe, dass eine Antwort vermessen wäre.